Im
Dom
K.
bekam den Auftrag, einem italienischen Geschäftsfreund der Bank, der
für sie sehr wichtig war und sich zum ersten Mal in dieser Stadt
aufhielt, einige Kunstdenkmäler zu zeigen. Es war ein Auftrag, den
er zu anderer Zeit gewiss für ehrend gehalten hätte, den er aber
jetzt, da er nur mit großer Anstrengung sein Ansehen in der Bank
noch wahren konnte, widerwillig übernahm. Jede Stunde, die er dem
Büro entzogen wurde, machte ihm Kummer; er konnte zwar die Bürozeit
bei Weitem nicht mehr so ausnützen wie früher, er brachte manche
Stunden nur unter dem notdürftigsten Anschein wirklicher Arbeit hin,
aber desto größer waren seine Sorgen, wenn er nicht im Büro war.
Er glaubte dann zu sehn, wie der Direktor-Stellvertreter, der ja
immer auf der Lauer gewesen war, von Zeit zu Zeit in sein Büro kam,
sich an seinen Schreibtisch setzte, seine Schriftstücke durchsuchte,
Parteien, mit denen K. seit Jahren fast befreundet gewesen war,
empfing und ihm abspenstig machte, ja vielleicht sogar Fehler
aufdeckte, von denen sich K. während der Arbeit jetzt immer aus
tausend Richtungen bedroht sah und die er nicht mehr vermeiden
konnte. Wurde er daher einmal, sei es in noch so auszeichnender Weise
zu einem Geschäftsweg oder gar zu einer kleinen Reise beauftragt –
solche Aufträge hatten sich in der letzten Zeit ganz zufällig
gehäuft – dann lag immerhin die Vermutung nahe, dass man ihn für
ein Weilchen aus dem Büro entfernen und seine Arbeit überprüfen
wolle oder wenigstens, dass man ihn im Büro für leicht entbehrlich
halte. Die meisten dieser Aufträge hätte er ohne Schwierigkeit
ablehnen können, aber er wagte es nicht, denn, wenn seine
Befürchtung auch nur im geringsten begründet war, bedeutete die
Ablehnung des Auftrags Geständnis seiner Angst. Aus diesem Grunde
nahm er solche Aufträge scheinbar gleichmütig hin und verschwieg
sogar, als er eine anstrengende zweitägige Geschäftsreise machen
sollte, eine ernstliche Verkühlung, um sich nur nicht der Gefahr
auszusetzen, mit Berufung auf das gerade herrschende regnerische
Herbstwetter von der Reise abgehalten zu werden. Als er von
dieser Reise mit wütenden Kopfschmerzen zurückkehrte, erfuhr er,
dass er dazu bestimmt sei, am nächsten Tag den italienischen
Geschäftsfreund zu begleiten. Die Verlockung, sich wenigstens dieses
eine Mal zu weigern, war sehr groß, vor allem war das, was man ihm
hier zugedacht hatte, keine unmittelbar mit dem Geschäft
zusammenhängende Arbeit, die Erfüllung dieser gesellschaftlichen
Pflicht gegenüber dem Geschäftsfreund war an sich zweifellos
wichtig genug, nur nicht für K., der wohl wusste, dass er sich nur
durch Arbeitserfolge erhalten könne und dass es, wenn ihm das nicht
gelingen würde, vollständig wertlos war, wenn er diesen Italiener
unerwarteter Weise sogar bezaubern sollte; er wollte nicht einmal für
einen Tag aus dem Bereich der Arbeit geschoben werden, denn die
Furcht nicht mehr zurückgelassen zu werden, war zu groß, eine
Furcht, die er sehr genau als übertrieben erkannte, die ihn aber
doch beengte. In diesem Fall allerdings war es fast unmöglich einen
annehmbaren Einwand zu erfinden, K.'s Kenntnis des Italienischen war
zwar nicht sehr groß, aber immerhin genügend; das Entscheidende
aber war, dass K. aus früherer Zeit einige kunsthistorische
Kenntnisse besaß, was in äußerst übertriebener Weise dadurch in
der Bank bekannt geworden war, dass K. eine Zeit lang, übrigens auch
nur aus geschäftlichen Gründen, Mitglied des Vereins zur Erhaltung
der städtischen Kunstdenkmäler gewesen war. Nun war aber der
Italiener, wie man gerüchteweise erfahren hatte, ein Kunstliebhaber
und die Wahl K.'s zu seinem Begleiter war daher selbstverständlich.
Es
war ein sehr regnerischer, stürmischer Morgen, als K. voll Ärger
über den Tag, der ihm bevorstand, schon um sieben Uhr ins
Büro kam, um wenigstens einige Arbeit noch fertig zu bringen, ehe
der Besuch ihn allem entziehen würde. Er war sehr müde, denn er
hatte die halbe Nacht mit dem Studium einer italienischen Grammatik
verbracht, um sich ein wenig vorzubereiten, das Fenster an dem er in
der letzten Zeit viel zu oft zu sitzen pflegte, lockte ihn mehr als
der Schreibtisch, aber er widerstand und setzte sich zur Arbeit.
Leider trat gerade der Diener ein und meldete, der Herr Direktor habe
ihn geschickt, um nachzusehn, ob der Herr Prokurist schon hier sei;
sei er hier, dann möge er so freundlich sein und ins Empfangszimmer
hinüber kommen, der Herr aus Italien sei schon da. "Ich komme
schon", sagte K., steckte ein kleines Wörterbuch in die Tasche,
nahm ein Album der städtischen Sehenswürdigkeiten, das er für den
Fremden vorbereitet hatte unter den Arm, und ging durch das Büro des
Direktor-Stellvertreters in das Direktionszimmer. Er war glücklich
darüber, so früh ins Büro gekommen zu sein und sofort zur
Verfügung stehn zu können, was wohl niemand ernstlich erwartet
hatte. Das Büro des Direktor-Stellvertreters war natürlich noch
leer, wie in tiefer Nacht, wahrscheinlich hatte der Diener auch ihn
ins Empfangszimmer berufen sollen, es war aber erfolglos gewesen. Als
K. ins Empfangszimmer eintrat, erhoben sich die zwei Herren aus den
tiefen Fauteuils. Der Direktor lächelte freundlich, offenbar war er
sehr erfreut über K.'s Kommen, er besorgte sofort die Vorstellung;
der Italiener schüttelte K. kräftig die Hand und nannte lachend
irgendjemanden einen Frühaufsteher, K. verstand nicht genau, wen er
meinte, es war überdies ein sonderbares Wort, dessen Sinn K. erst
nach einem Weilchen erriet. Er antwortete mit einigen glatten Sätzen,
die der Italiener wieder lachend hin nahm, wobei er mehrmals mit
nervöser Hand über seinen graublauen buschigen Schnurrbart fuhr.
Dieser Bart war offenbar parfümiert, man war fast versucht, sich zu
nähern und zu riechen. Als sich alle gesetzt hatten und ein kleines
einleitendes Gespräch begann, bemerkte K. mit großem Unbehagen,
dass er den Italiener nur bruchstückweise verstand. Wenn er ganz
ruhig sprach, verstand er ihn fast vollständig, das waren aber nur
seltene Ausnahmen, meistens quoll förmlich ihm die Rede aus dem
Mund, er schüttelte den Kopf wie vor Lust darüber. Bei solchen
Reden aber verwickelte er sich regelmäßig in irgendeinen Dialekt,
der für K. nichts Italienisches mehr hatte, den aber der Direktor
nicht nur verstand, sondern auch sprach, was K. allerdings hätte
voraus sehn können, denn der Italiener stammte aus Süditalien, wo
auch der Direktor einige Jahre gewesen war. Jedenfalls erkannte K.,
dass ihm die Möglichkeit sich mit dem Italiener zu verständigen,
zum größten Teil genommen war, denn auch dessen Französisch war
nur schwer verständlich, auch verdeckte der Bart die
Lippenbewegungen, deren Anblick vielleicht zum Verständnis geholfen
hätte. K. begann viele Unannehmlichkeiten vorauszusehn, vorläufig
gab er es auf, den Italiener verstehen zu wollen – in der Gegenwart
des Direktors, der ihn so leicht verstand, wäre es unnötige
Anstrengung gewesen – und er beschränkte sich darauf, ihn
verdrießlich zu beobachten, wie er tief und doch leicht in dem
Fauteuil ruhte, wie er öfters an seinem kurzen, scharf geschnittenen
Röckchen zupfte und wie er einmal mit erhobenen Armen und lose in
den Gelenken bewegten Händen irgendetwas darzustellen versuchte, das
K. nicht begreifen konnte, trotzdem er vorgebeugt die Hände nicht
aus den Augen ließ. Schließlich machte sich bei K., der sonst
unbeschäftigt nur mechanisch mit den Blicken dem Hin und Her der
Reden folgte, die frühere Müdigkeit geltend und er ertappte sich
einmal zu seinem Schrecken, glücklicherweise noch rechtzeitig,
darauf, dass er in der Zerstreutheit gerade hatte aufstehen, sich
umdrehn und weg gehn wollen. Endlich sah der Italiener auf die Uhr
und sprang auf. Nachdem er sich vom Direktor verabschiedet hatte,
drängte er sich an K. und zwar so dicht, dass K. sein Fauteuil
zurück schieben musste, um sich bewegen zu können. Der Direktor,
der gewiss an K.'s Augen die Not erkannte, in der er sich gegenüber
diesem Italienisch befand, mischte sich in das Gespräch und zwar so
klug und so zart, dass es den Anschein hatte, als füge er nur kleine
Ratschläge bei, während er in Wirklichkeit alles was der Italiener,
unermüdlich ihm in die Rede fallend vorbrachte, in aller Kürze K.
verständlich machte. K. erfuhr von ihm, dass der Italiener vorläufig
noch einige Geschäfte zu besorgen habe, dass er leider auch im
Ganzen nur wenig Zeit haben werde, dass er auch keinesfalls
beabsichtige, in Eile alle Sehenswürdigkeiten abzulaufen, dass er
sich vielmehr – allerdings nur wenn K. zustimme, bei ihm allein
liege die Entscheidung – entschlossen habe nur den Dom, diesen aber
gründlich, zu besichtigen. Er freue sich ungemein diese Besichtigung
in Begleitung eines so gelehrten und liebenswürdigen Mannes –
damit war K. gemeint, der mit nichts anderem beschäftigt war, als
den Italiener zu überhören und die Worte des Direktors schnell
aufzufassen – vornehmen zu können und er bitte ihn, wenn ihm die
Stunde gelegen sei, in zwei Stunden, etwa um zehn Uhr, sich im
Dom einzufinden. Er selbst hoffe um diese Zeit schon bestimmt dort
sein zu können. K. antwortete einiges Entsprechende, der Italiener
drückte zuerst dem Direktor, dann K., dann nochmals dem Direktor die
Hand und ging von beiden gefolgt, nur noch halb ihnen zugewendet, im
Reden aber noch immer nicht aussetzend, zur Tür. K. blieb dann noch
ein Weilchen mit dem Direktor beisammen, der heute besonders leidend
aussah. Er glaubte sich bei K. irgendwie entschuldigen zu müssen und
sagte – sie standen vertraulich nahe beisammen – zuerst hätte er
beabsichtigt, selbst mit dem Italiener zu gehn, dann aber – er gab
keinen nähern Grund an – habe er sich entschlossen, lieber K. zu
schicken. Wenn er den Italiener nicht gleich im Anfang verstehe, so
müsse er sich dadurch nicht verblüffen lassen, das Verständnis
komme sehr rasch und wenn er auch viel überhaupt nicht verstehen
sollte, so sei es auch nicht so schlimm, denn für den Italiener sei
es nicht gar so wichtig verstanden zu werden. Übrigens sei K.'s
Italienisch überraschend gut und er werde sich gewiss ausgezeichnet
mit der Sache abfinden. Damit war K. verabschiedet. Die Zeit, die
ihm noch frei blieb, verbrachte er damit seltene Vokabeln, die er zur
Führung im Dom benötigte, aus dem Wörterbuch heraus zu schreiben.
Es war eine äußerst lästige Arbeit, Diener brachten die Post,
Beamte kamen mit verschiedenen Anfragen und blieben, da sie K.
beschäftigt sahen, bei der Tür stehn, rührten sich aber nicht weg,
bis sie K. angehört hatte, der Direktor-Stellvertreter ließ es sich
nicht entgehn, K. zu stören, kam öfters herein, nahm ihm das
Wörterbuch aus der Hand und blätterte offenbar ganz sinnlos darin,
selbst Parteien tauchten, wenn sich die Türe öffnete, im Halbdunkel
des Vorzimmers auf und verbeugten sich zögernd, sie wollten auf sich
aufmerksam machen, waren aber dessen nicht sicher, ob sie gesehen
wurden – das alles bewegte sich um K. als um seinen Mittelpunkt,
während er selbst die Wörter, die er brauchte, zusammenstellte,
dann im Wörterbuch suchte, dann heraus schrieb, dann sich in ihrer
Aussprache übte und schließlich auswendig zu lernen versuchte. Sein
früheres gutes Gedächtnis schien ihn aber ganz verlassen zu haben,
manchmal wurde er auf den Italiener, der ihm diese Anstrengung
verursachte, so wütend, dass er das Wörterbuch unter Papieren
vergrub, mit der festen Absicht sich nicht mehr vorzubereiten, dann
aber sah er ein, dass er doch nicht stumm mit dem Italiener vor den
Kunstwerken im Dom auf und abgehn könne und er zog mit noch größerer
Wut das Wörterbuch wieder hervor.
Gerade
um halb zehn, als er weg gehn wollte, erfolgte ein
telefonischer Anruf, Leni wünschte ihm Guten Morgen und fragte nach
seinem Befinden, K. dankte eilig und bemerkte, er könne sich jetzt
unmöglich in ein Gespräch einlassen, denn er müsse in den Dom. "In
den Dom?" fragte Leni. "Nun ja, in den Dom." "Warum
denn in den Dom?" fragte Leni. K. suchte es ihr in Kürze zu
erklären, aber kaum hatte er damit angefangen, sagte Leni plötzlich:
"Sie hetzen dich." Bedauern, das er nicht herausgefordert
und nicht erwartet hatte, vertrug K. nicht, er verabschiedete sich
mit zwei Worten, sagte aber doch, während er den Hörer an seinen
Platz hängte, halb zu sich, halb zu dem fernen Mädchen, das er
nicht mehr hörte: "Ja, sie hetzen mich. "
Nun
war es aber schon spät, es bestand schon fast die Gefahr, dass er
nicht rechtzeitig ankam. Im Automobil fuhr er hin, im letzten
Augenblick hatte er sich noch an das Album erinnert, das er früh zu
übergeben keine Gelegenheit gefunden hatte und das er deshalb jetzt
mitnahm. Er hielt es auf seinen Knien und trommelte darauf unruhig
während der ganzen Fahrt. Der Regen war schwächer geworden, aber es
war feucht, kühl und dunkel, man würde im Dom wenig sehn, wohl aber
würde sich dort infolge des langen Stehns auf den kalten Fliesen
K.'s Verkühlung sehr verschlimmern.
Der
Domplatz war ganz leer, K. erinnerte sich, dass es ihm schon als
kleinem Kind aufgefallen war, dass in den Häusern dieses engen
Platzes immer fast alle Fenstervorhänge herabgelassen waren. Bei dem
heutigen Wetter war es allerdings verständlicher als sonst. Auch im
Dom schien es leer zu sein, es fiel natürlich niemandem ein, jetzt
hierher zu kommen. K. durchlief beide Seitenschiffe, er traf nur ein
altes Weib, das eingehüllt in ein warmes Tuch vor einem Marienbild
kniete und es anblickte. Von weitem sah er dann noch einen hinkenden
Diener in einer Mauertür verschwinden. K. war pünktlich
gekommen, gerade bei seinem Eintritt hatte es elf geschlagen, der
Italiener war aber noch nicht hier. K. ging zum Haupteingang zurück,
stand dort eine Zeitlang unentschlossen und machte dann im Regen
einen Rundgang um den Dom, um nachzusehn, ob der Italiener nicht
vielleicht bei irgendeinem Seiteneingang warte. Er war nirgends zu
finden. Sollte der Direktor etwa die Zeitangabe missverstanden haben?
Wie konnte man auch diesen Menschen richtig verstehn. Wie es aber
auch sein mochte, jedenfalls musste K. zumindest eine halbe Stunde
auf ihn warten. Da er müde war, wollte er sich setzen, er ging
wieder in den Dom, fand auf einer Stufe einen kleinen teppichartigen
Fetzen, zog ihn mit der Fußspitze vor eine nahe Bank, wickelte sich
fester in seinen Mantel, schlug den Kragen in die Höhe und setzte
sich. Um sich zu zerstreuen schlug er das Album auf, blätterte darin
ein wenig, musste aber bald aufhören, denn es wurde so dunkel, dass
er, als er aufblickte, in dem nahen Seitenschiff kaum eine Einzelheit
unterscheiden konnte.
In
der Ferne funkelte auf dem Hauptaltar ein großes Dreieck von
Kerzenlichtern, K. hätte nicht mit Bestimmtheit sagen können, ob er
sie schon früher gesehen hatte. Vielleicht waren sie erst jetzt
angezündet worden. Die Kirchendiener sind berufsmäßige Schleicher,
man bemerkt sie nicht. Als sich K. zufällig umdrehte, sah er nicht
weit hinter sich eine hohe starke an einer Säule befestigte Kerze
gleichfalls brennen. So schön das war, zur Beleuchtung der
Altarbilder, die meistens in der Finsternis der Seitenaltäre hingen,
war das gänzlich unzureichend, es vermehrte vielmehr die Finsternis.
Es war vom Italiener ebenso vernünftig als unhöflich gehandelt,
dass er nicht gekommen war, es wäre nichts zu sehn gewesen, man
hätte sich damit begnügen müssen mit K.'s elektrischer
Taschenlampe einige Bilder zollweise abzusuchen. Um zu versuchen, was
man davon erwarten könnte, ging K. zu einer nahen kleinen
Seitenkapelle, stieg paar Stufen bis zu einer niedrigen
Marmorbrüstung und über sie vorgebeugt beleuchtete er mit der Lampe
das Altarbild. Störend schwebte das ewige Licht davor. Das erste was
K. sah und zum Teil erriet, war ein großer gepanzerter Ritter, der
am äußersten Rande des Bildes dargestellt war. Er stützte sich auf
sein Schwert, das er in den kahlen Boden vor sich – nur einige
Grashalme kamen hie und da hervor – gestoßen hatte. Er schien
aufmerksam einen Vorgang zu beobachten, der sich vor ihm abspielte.
Es war erstaunlich, dass er so stehen blieb und sich nicht näherte.
Vielleicht war er dazu bestimmt, Wache zu stehn. K., der schon lange
keine Bilder gesehen hatte, betrachtete den Ritter längere Zeit,
trotzdem er immerfort mit den Augen zwinkern musste, da er das grüne
Licht der Lampe nicht vertrug. Als er dann das Licht über den
übrigen Teil des Bildes streichen ließ, fand er eine Grablegung
Christi in gewöhnlicher Auffassung, es war übrigens ein neueres
Bild. Er steckte die Lampe ein und kehrte wieder zu seinem Platz
zurück.
Es
war nun schon wahrscheinlich unnötig auf den Italiener zu warten,
draußen war aber gewiss strömender Regen und da es hier nicht so
kalt war, wie K. erwartet hatte, beschloss er vorläufig hier zu
bleiben. In seiner Nachbarschaft war die große Kanzel, auf ihrem
kleinen runden Dach waren halb liegend zwei leere goldene Kreuze
angebracht, die sich mit ihrer äußersten Spitze überquerten. Die
Außenwand der Brüstung und ihr Übergang zur tragenden Säule war
von grünem Laubwerk gebildet, in das kleine Engel griffen, bald
lebhaft, bald ruhend. K. trat vor die Kanzel und untersuchte sie von
allen Seiten, die Bearbeitung des Steines war überaus sorgfältig,
das tiefe Dunkel zwischen dem Laubwerk und hinter ihm schien wie
eingefangen und festgehalten; K. legte seine Hand in eine solche
Lücke und tastete dann den Stein vorsichtig ab, von dem Dasein
dieser Kanzel hatte er bisher gar nicht gewusst. Da bemerkte er
zufällig hinter der nächsten Bankreihe einen Kirchendiener, der
dort in einem hängenden, faltigen schwarzen Rock stand, in der
linken Hand eine Schnupftabakdose hielt und ihn betrachtete. "Was
will denn der Mann?" dachte K. "Bin ich ihm verdächtig.
Will er ein Trinkgeld?" Als sich aber nun der Kirchendiener von
K. bemerkt sah, zeigte er mit der Rechten, zwischen zwei Fingern
hielt er noch eine Prise Tabak, in irgendeine unbestimmte Richtung.
Sein Benehmen war fast unverständlich, K. wartete noch ein Weilchen,
aber der Kirchendiener hörte nicht auf mit der Hand etwas zu zeigen
und bekräftigte es noch durch Kopfnicken. "Was will er denn?"
fragte K. leise, er wagte es nicht hier zu rufen; dann aber zog er
die Geldtasche und drängte sich durch die nächste Bank, um zu dem
Mann zu kommen. Doch dieser machte sofort eine abwehrende Bewegung
mit der Hand, zuckte die Schultern und hinkte davon. Mit einer
ähnlichen Gangart wie es dieses eilige Hinken war, hatte K. als Kind
das Reiten auf Pferden nachzuahmen versucht. "Ein kindischer
Alter", dachte K., "sein Verstand reicht nur noch zum
Kirchendienst aus. Wie er stehn bleibt, wenn ich stehe und wie er
lauert, ob ich weitergehen will." Lächelnd folgte K. dem Alten
durch das ganze Seitenschiff fast bis zur Höhe des Hauptaltars, der
Alte hörte nicht auf, etwas zu zeigen, aber K. drehte sich
absichtlich nicht um, das Zeigen hatte keinen andern Zweck als ihn
von der Spur des Alten abzubringen. Schließlich ließ er wirklich
von ihm, er wollte ihn nicht zu sehr ängstigen, auch wollte er die
Erscheinung, für den Fall, dass der Italiener doch noch kommen
sollte, nicht ganz verscheuchen.
Als
er in das Hauptschiff trat, um seinen Platz zu suchen, auf dem er das
Album liegen gelassen hatte, bemerkte er an einer Säule fast
angrenzend an die Bänke des Altarchors eine kleine Nebenkanzel, ganz
einfach aus kahlem bleichem Stein. Sie war so klein, dass sie aus der
Ferne wie eine noch leere Nische erschien, die für die Aufnahme
einer Statue bestimmt war. Der Prediger konnte gewiss keinen vollen
Schritt von der Brüstung zurücktreten. Außerdem begann die
steinerne Einwölbung der Kanzel ungewöhnlich tief und stieg zwar
ohne jeden Schmuck aber derartig geschweift in die Höhe, dass ein
mittelgroßer Mann dort nicht aufrecht stehn konnte, sondern sich
dauernd über die Brüstung vorbeugen musste. Das Ganze war wie zur
Qual des Predigers bestimmt, es war unverständlich, wozu man diese
Kanzel benötigte, da man doch die andere große und so kunstvoll
geschmückte zur Verfügung hatte.
K.
wäre auch diese kleine Kanzel gewiss nicht aufgefallen, wenn nicht
oben eine Lampe befestigt gewesen wäre, wie man sie kurz vor einer
Predigt bereitzustellen pflegt. Sollte jetzt etwa eine Predigt
stattfinden? In der leeren Kirche? K. sah an der Treppe hinab, die an
die Säule sich anschmiegend zur Kanzel führte und so schmal war,
als solle sie nicht für Menschen, sondern nur zum Schmuck der Säule
dienen. Aber unten an der Kanzel, K. lächelte vor Staunen, stand
wirklich der Geistliche, hielt die Hand am Geländer, bereit
aufzusteigen und sah auf K. hin. Dann nickte er ganz leicht mit dem
Kopf, worauf K. sich bekreuzigte und verbeugte, was er schon früher
hätte tun sollen. Der Geistliche gab sich einen kleinen Aufschwung
und stieg mit kurzen, schnellen Schritten die Kanzel hinauf. Sollte
wirklich eine Predigt beginnen? War vielleicht der Kirchendiener doch
nicht so ganz vom Verstand verlassen und hatte K. dem Prediger
zutreiben wollen, was allerdings in der leeren Kirche äußerst
notwendig gewesen war. Übrigens gab es ja noch irgendwo vor einem
Marienbild ein altes Weib, das auch hätte kommen sollen. Und wenn es
schon eine Predigt sein sollte, warum wurde sie nicht von der Orgel
eingeleitet. Aber die blieb still und blinkte nur schwach aus der
Finsternis ihrer großen Höhe.
K.
dachte daran, ob er sich jetzt nicht eiligst entfernen sollte, wenn
er es jetzt nicht tat, war keine Aussicht, dass er es während der
Predigt tun könnte, er musste dann bleiben, solange sie dauerte, im
Büro verlor er so viel Zeit, auf den Italiener zu warten war er
längst nicht mehr verpflichtet, er sah auf seine Uhr, es war elf.
Aber konnte denn wirklich gepredigt werden? Konnte K. allein die
Gemeinde darstellen? Wie, wenn er ein Fremder gewesen wäre, der nur
die Kirche besichtigen wollte? Im Grunde war er auch nichts anderes.
Es war unsinnig, daran zu denken, dass gepredigt werden sollte, jetzt
um elf Uhr, an einem Werketag bei graulichstem Wetter. Der Geistliche
– ein Geistlicher war es zweifellos, ein junger Mann mit glattem
dunklem Gesicht – ging offenbar nur hinauf, um die Lampe zu
löschen, die irrtümlich angezündet worden war.
Es
war aber nicht so, der Geistliche prüfte vielmehr das Licht und
schraubte es noch ein wenig auf, dann drehte er sich langsam der
Brüstung zu, die er vorn an der kantigen Einfassung mit beiden
Händen erfasste. So stand er eine Zeit lang und blickte ohne den
Kopf zu rühren umher. K. war ein großes Stück zurückgewichen und
lehnte mit den Ellbogen an der vordersten Kirchenbank. Mit unsichern
Augen sah er irgendwo, ohne den Ort genau zu bestimmen, den
Kirchendiener mit krummem Rücken friedlich wie nach beendeter
Aufgabe sich zusammen kauern. Was für eine Stille herrschte jetzt im
Dom! Aber K. musste sie stören, er hatte nicht die Absicht hier zu
bleiben; wenn es die Pflicht des Geistlichen war, zu einer bestimmten
Stunde ohne Rücksicht auf die Umstände zu predigen, so mochte er es
tun, es würde auch ohne K.'s Beistand gelingen, ebenso wie die
Anwesenheit K.'s die Wirkung gewiss nicht steigern würde. Langsam
setzte sich also K. in Gang, tastete sich auf den Fußspitzen an der
Bank hin, kam dann in den breiten Hauptweg und ging auch dort ganz
ungestört, nur dass der steinerne Boden unter dem leisesten Schritt
erklang und die Wölbungen schwach aber ununterbrochen, in vielfachem
gesetzmäßigem Fortschreiten davon widerhallten. K. fühlte sich ein
wenig verlassen, als er dort vom Geistlichen vielleicht beobachtet
zwischen den leeren Bänken allein hindurch ging, auch schien ihm die
Größe des Doms gerade an der Grenze des für Menschen noch
Erträglichen zu liegen. Als er zu seinem frühern Platz kam, haschte
er förmlich ohne weitern Aufenthalt nach dem dort liegen gelassenen
Album und nahm es an sich. Fast hatte er schon das Gebiet der Bänke
verlassen und näherte sich dem freien Raum, der zwischen ihnen und
dem Ausgang lag, als er zum ersten Mal die Stimme des Geistlichen
hörte. Eine mächtige, geübte Stimme. Wie durchdrang sie den zu
ihrer Aufnahme bereiten Dom! Es war aber nicht die Gemeinde, die der
Geistliche anrief, es war ganz eindeutig und es gab keine Ausflüchte,
er rief: "Josef K.!"
K.
stockte und sah vor sich auf den Boden. Vorläufig war er noch frei,
er konnte noch weiter gehn und durch eine der drei kleinen dunklen
Holztüren, die nicht weit vor ihm waren, sich davon machen. Es würde
eben bedeuten, dass er nicht verstanden hatte oder dass er zwar
verstanden hatte, sich aber darum nicht kümmern wollte. Falls er
sich aber umdrehte, war er festgehalten, denn dann hatte er das
Geständnis gemacht, dass er gut verstanden hatte, dass er wirklich
der Angerufene war und dass er auch folgen wollte. Hätte der
Geistliche nochmals gerufen, wäre K. gewiss fortgegangen, aber da
alles still blieb, solange K. auch wartete, drehte er doch ein wenig
den Kopf, denn er wollte sehn, was der Geistliche jetzt mache. Er
stand ruhig auf der Kanzel wie früher, es war aber deutlich zu sehn,
dass er K.'s Kopfwendung bemerkt hatte. Es wäre ein kindliches
Versteckenspiel gewesen, wenn sich jetzt K. nicht vollständig
umgedreht hätte. Er tat es und wurde vom Geistlichen durch ein
Winken des Fingers näher gerufen. Da jetzt alles offen geschehen
konnte, lief er – er tat es auch aus Neugierde und um die
Angelegenheit abzukürzen – mit langen fliegenden Schritten der
Kanzel entgegen. Bei den ersten Bänken machte er halt, aber dem
Geistlichen schien die Entfernung noch zu groß, er streckte die Hand
aus und zeigte mit dem scharf gesenkten Zeigefinger auf eine Stelle
knapp vor der Kanzel. K. folgte auch darin, er musste auf diesem
Platz den Kopf schon weit zurück beugen, um den Geistlichen noch zu
sehn. "Du bist Josef K.", sagte der Geistliche und erhob
eine Hand auf der Brüstung in einer unbestimmten Bewegung. "Ja",
sagte K., er dachte daran, wie offen er früher immer seinen Namen
genannt hatte, seit einiger Zeit war er ihm eine Last, auch kannten
jetzt seinen Namen Leute, mit denen er zum ersten Mal zusammen kam,
wie schön war es, sich zuerst vorzustellen und dann erst gekannt zu
werden. "Du bist angeklagt", sagte der Geistliche besonders
leise. "Ja", sagte K., "man hat mich davon
verständigt." "Dann bist du der, den ich suche",
sagte der Geistliche. "Ich bin der Gefängniskaplan." "Ach
so", sagte K. "Ich habe dich hierher rufen lassen",
sagte der Geistliche, "um mit dir zu sprechen." "Ich
wusste es nicht", sagte K. "Ich bin hierher gekommen, um
einem Italiener den Dom zu zeigen." "Lass das
Nebensächliche", sagte der Geistliche. "Was hältst du in
der Hand? Ist es ein Gebetbuch?" "Nein", antwortete
K., "es ist ein Album der städtischen Sehenswürdigkeiten."
"Leg es aus der Hand", sagte der Geistliche. K. warf es so
heftig weg, dass es aufklappte und mit zerdrückten Blättern ein
Stück über den Boden schleifte. "Weißt du, dass dein Prozess
schlecht steht?" fragte der Geistliche. "Es scheint mir
auch so", sagte K. "Ich habe mir alle Mühe gegeben, bisher
aber ohne Erfolg. Allerdings habe ich die Eingabe noch nicht fertig."
"Wie stellst du dir das Ende vor", fragte der Geistliche.
"Früher dachte ich, es müsse gut enden", sagte K., "jetzt
zweifle ich daran manchmal selbst. Ich weiß nicht, wie es enden
wird. Weißt du es?" "Nein", sagte der Geistliche,
"aber ich fürchte es wird schlecht enden. Man hält dich für
schuldig. Dein Prozess wird vielleicht über ein niedriges Gericht
gar nicht hinauskommen. Man hält wenigstens vorläufig deine Schuld
für erwiesen." "Ich bin aber nicht schuldig", sagte
K. "Es ist ein Irrtum. Wie kann denn ein Mensch überhaupt
schuldig sein. Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie der
andere." "Das ist richtig", sagte der Geistliche,
"aber so pflegen die Schuldigen zu reden." "Hast auch
du ein Vorurteil gegen mich?" fragte K. "Ich habe kein
Vorurteil gegen dich", sagte der Geistliche. "Ich danke
dir", sagte K. "Alle andern aber, die an dem Verfahren
beteiligt sind, haben ein Vorurteil gegen mich. Sie flößen es auch
den Unbeteiligten ein. Meine Stellung wird immer schwieriger."
"Du missverstehst die Tatsachen", sagte der Geistliche.
"Das Urteil kommt nicht mit einem Mal, das Verfahren geht
allmählich ins Urteil über." "So ist es also", sagte
K. und senkte den Kopf. "Was willst du nächstens in deiner
Sache tun?" fragte der Geistliche. "Ich will noch Hilfe
suchen", sagte K. und hob den Kopf, um zu sehn, wie der
Geistliche es beurteile. "Es gibt noch gewisse Möglichkeiten,
die ich nicht ausgenützt habe." "Du suchst zu viel fremde
Hilfe", sagte der Geistliche missbilligend, "und besonders
bei Frauen. Merkst du denn nicht, dass es nicht die wahre Hilfe ist."
"Manchmal und sogar oft könnte ich dir recht geben", sagte
K., "aber nicht immer. Die Frauen haben eine große Macht. Wenn
ich einige Frauen, die ich kenne, dazu bewegen könnte,
gemeinschaftlich für mich zu arbeiten, müsste ich durchdringen.
Besonders bei diesem Gericht, das fast nur aus Frauenjägern besteht.
Zeig dem Untersuchungsrichter eine Frau aus der Ferne und er
überrennt, um nur rechtzeitig hinzukommen, den Gerichtstisch und den
Angeklagten." Der Geistliche neigte den Kopf zur Brüstung,
jetzt erst schien die Überdachung der Kanzel ihn nieder zu drücken.
Was für ein Unwetter mochte draußen sein? Das war kein trüber Tag
mehr, das war schon tiefe Nacht. Keine Glasmalerei der großen
Fenster war imstande, die dunkle Wand auch nur mit einem Schimmer zu
unterbrechen. Und gerade jetzt begann der Kirchendiener die Kerzen
auf dem Hauptaltar eine nach der andern auszulöschen. "Bist du
mir böse", fragte K. den Geistlichen. "Du weißt
vielleicht nicht, was für einem Gericht du dienst." Er bekam
keine Antwort. "Es sind doch nur meine Erfahrungen", sagte
K. Oben blieb es noch immer still. "Ich wollte dich nicht
beleidigen", sagte K. Da schrie der Geistliche zu K. hinunter:
"Siehst du denn nicht zwei Schritte weit?" Es war im Zorn
geschrien, aber gleichzeitig wie von einem, der jemanden fallen sieht
und weil er selbst erschrocken ist, unvorsichtig, ohne Willen
schreit.
Nun
schwiegen beide lange. Gewiss konnte der Geistliche in dem Dunkel das
unten herrschte, K. nicht genau erkennen, während K. den Geistlichen
im Licht der kleinen Lampe deutlich sah. Warum kam der Geistliche
nicht herunter? Eine Predigt hatte er ja nicht gehalten, sondern K.
nur einige Mitteilungen gemacht, die ihm, wenn er sie genau beachten
würde, wahrscheinlich mehr schaden als nützen würden. Wohl aber
schien K. die gute Absicht des Geistlichen zweifellos zu sein, es war
nicht unmöglich, dass er sich mit ihm, wenn er herunter käme,
einigen würde, es war nicht unmöglich, dass er von ihm einen
entscheidenden und annehmbaren Rat bekäme, der ihm z.B. zeigen
würde, nicht etwa wie der Prozess zu beeinflussen war, sondern wie
man aus dem Prozess ausbrechen, wie man ihn umgehen, wie man
außerhalb des Prozesses leben könnte. Diese Möglichkeit musste
bestehn, K. hatte in der letzten Zeit öfters an sie gedacht. Wusste
aber der Geistliche eine solche Möglichkeit, würde er sie
vielleicht, wenn man ihn darum bat, verraten, trotzdem er selbst zum
Gericht gehörte und trotzdem er, als K. das Gericht angegriffen
hatte, sein sanftes Wesen unterdrückt und K. sogar angeschrien
hatte.
"Willst
du nicht hinunter kommen?" sagte K. "Es ist doch keine
Predigt zu halten. Komm zu mir hinunter." "Jetzt kann ich
schon kommen", sagte der Geistliche, er bereute vielleicht sein
Schreien. Während er die Lampe von ihrem Haken löste, sagte er:
"Ich musste zuerst aus der Entfernung mit dir sprechen. Ich
lasse mich sonst zu leicht beeinflussen und vergesse meinen Dienst. "
K.
erwartete ihn unten an der Treppe. Der Geistliche streckte ihm schon
von einer obern Stufe im Hinuntergehn die Hand entgegen. "Hast
du ein wenig Zeit für mich?" fragte K. "Soviel Zeit als du
brauchst", sagte der Geistliche und reichte K. die kleine Lampe,
damit er sie trage. Auch in der Nähe verlor sich eine gewisse
Feierlichkeit aus seinem Wesen nicht. "Du bist sehr freundlich
zu mir", sagte K. Sie gingen nebeneinander im dunklen
Seitenschiff auf und ab. "Du bist eine Ausnahme unter allen, die
zum Gericht gehören. Ich habe mehr Vertrauen zu dir, als zu
irgendjemanden von ihnen, so viele ich schon kenne. Mit dir kann ich
offen reden." "Täusche dich nicht", sagte der
Geistliche. "Worin sollte ich mich denn täuschen?" fragte
K. "In dem Gericht täuschst du dich", sagte der
Geistliche, "in den einleitenden Schriften zum Gesetz
heißt es von dieser Täuschung: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter.
Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt
in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den
Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann,
ob er also später werde eintreten dürfen. 'Es ist möglich', sagt
der Türhüter, 'jetzt aber nicht.' Da das Tor zum Gesetz offen steht
wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um
durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt,
lacht er und sagt: 'Wenn es dich so lockt, versuche es doch trotz
meines Verbotes hinein zu gehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich
bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber
Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des
dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.' Solche Schwierigkeiten
hat der Mann vom Lande nicht erwartet, das Gesetz soll doch jedem und
immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in
seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen
dünnen schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich doch lieber
zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter
gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich
niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche
eingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten.
Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn
über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber
teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen und zum Schlusse
sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne.
Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat,
verwendet alles und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu
bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: 'Ich nehme es
nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.' Während
der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast
ununterbrochen. Er vergisst die andern Türhüter und dieser erste
scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er
verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren laut,
später als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird
kindisch und da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch
die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe
ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein
Augenlicht schwach und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler
wird oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er
jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des
Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode
sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu
einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat.
Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr
aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunter
neigen, denn die Größenunterschiede haben sich sehr zuungunsten des
Mannes verändert. 'Was willst du denn jetzt noch wissen', fragt der
Türhüter, 'du bist unersättlich.' 'Alle streben doch nach dem
Gesetz', sagt der Mann, 'wieso kommt es, dass in den vielen Jahren
niemand außer mir Einlass verlangt hat.' Der Türhüter erkennt,
dass der Mann schon am Ende ist und um sein vergehendes Gehör noch
zu erreichen, brüllt er ihn an: 'Hier konnte niemand sonst Einlass
erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe
jetzt und schließe ihn.'"
"Der
Türhüter hat also den Mann getäuscht", sagte K. sofort, von
der Geschichte sehr stark angezogen. "Sei nicht übereilt",
sagte der Geistliche, "übernimm nicht die fremde Meinung
ungeprüft. Ich habe dir die Geschichte im Wortlaut der Schrift
erzählt. Von Täuschung steht darin nichts." "Es ist aber
klar", sagte K., "und deine erste Deutung war ganz richtig.
Der Türhüter hat die erlösende Mitteilung erst dann gemacht, als
sie dem Manne nichts mehr helfen konnte." "Er wurde nicht
früher gefragt", sagte der Geistliche, "bedenke auch, dass
er nur Türhüter war und als solcher hat er seine Pflicht erfüllt."
"Warum glaubst du, dass er seine Pflicht erfüllt hat?"
fragte K., "er hat sie nicht erfüllt. Seine Pflicht war es
vielleicht alle Fremden abzuwehren, diesen Mann aber, für den der
Eingang bestimmt war, hätte er einlassen müssen." "Du
hast nicht genug Achtung vor der Schrift und veränderst die
Geschichte", sagte der Geistliche. "Die Geschichte enthält
über den Einlass ins Gesetz zwei wichtige Erklärungen des
Türhüters, eine am Anfang, eine am Ende. Die eine Stelle lautet:
'dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne' und die
andere: 'dieser Eingang war nur für dich bestimmt.' Bestände
zwischen diesen Erklärungen ein Widerspruch, dann hättest du recht
und der Türhüter hätte den Mann getäuscht. Nun besteht aber kein
Widerspruch. Im Gegenteil, die erste Erklärung deutet sogar auf die
zweite hin. Man könnte fast sagen, der Türhüter ging über seine
Pflicht hinaus, indem er dem Mann eine zukünftige Möglichkeit des
Einlasses in Aussicht stellte. Zu jener Zeit scheint es nur seine
Pflicht gewesen zu sein, den Mann abzuweisen. Und tatsächlich
wundern sich viele Erklärer der Schrift darüber, dass der Türhüter
jene Andeutung überhaupt gemacht hat, denn er scheint die
Genauigkeit zu lieben und wacht streng über sein Amt. Durch viele
Jahre verlässt er seinen Posten nicht und schließt das Tor erst
ganz zuletzt, er ist sich der Wichtigkeit seines Dienstes sehr
bewusst, denn er sagt, 'ich bin mächtig', er hat Ehrfurcht vor den
Vorgesetzten, denn er sagt, 'ich bin nur der unterste Türhüter', er
ist, wo es um Pflichterfüllung geht, weder zu rühren noch zu
erbittern, denn es heißt von dem Mann, 'er ermüdet den Türhüter
durch seine Bitten', er ist nicht geschwätzig, denn während der
vielen Jahre stellt er nur wie es heißt, 'teilnahmslose Fragen', er
ist nicht bestechlich, denn er sagt über ein Geschenk, 'ich nehme es
nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben',
schließlich deutet auch sein Äußeres auf einen pedantischen
Charakter hin, die große Spitznase und der lange, dünne, schwarze
tatarische Bart. Kann es einen pflichttreueren Türhüter geben? Nun
mischen sich aber in den Türhüter noch andere Wesenszüge ein, die
für den, der Einlass verlangt, sehr günstig sind und welche es
immerhin begreiflich machen, dass er in jener Andeutung einer
zukünftigen Möglichkeit über seine Pflicht etwas hinaus gehen
konnte. Es ist nämlich nicht zu leugnen, dass er ein wenig einfältig
und im Zusammenhang damit ein wenig eingebildet ist. Wenn auch seine
Äußerungen über seine Macht und über die Macht der andern
Türhüter und über deren sogar für ihn unerträglichen Anblick –
ich sage, wenn auch alle diese Äußerungen an sich richtig sein
mögen, so zeigt doch die Art wie er diese Äußerungen vorbringt,
dass seine Auffassung durch Einfalt und Überhebung getrübt ist. Die
Erklärer sagen hierzu: Richtiges Auffassen einer Sache und
Missverstehn der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig
aus. Jedenfalls aber muss man annehmen, dass jene Einfalt und
Überhebung, so geringfügig sie sich vielleicht auch äußern, doch
die Bewachung des Einganges schwächen, es sind Lücken im Charakter
des Türhüters. Hierzu kommt noch, dass der Türhüter seiner
Naturanlage nach freundlich zu sein scheint, er ist durchaus nicht
immer Amtsperson. Gleich in den ersten Augenblicken macht er den
Spaß, dass er den Mann trotz des ausdrücklich aufrecht erhaltenen
Verbotes zum Eintritt einladet, dann schickt er ihn nicht etwa fort,
sondern gibt ihm, wie es heißt, einen Schemel und lässt ihn
seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Die Geduld, mit der er
durch alle die Jahre die Bitten des Mannes erträgt, die kleinen
Verhöre, die Annahme der Geschenke, die Vornehmheit, mit der er es
zulässt, dass der Mann neben ihm laut den unglücklichen Zufall
verflucht, der den Türhüter hier aufgestellt hat – alles dieses
lässt auf Regungen des Mitleids schließen. Nicht jeder Türhüter
hätte so gehandelt. Und schließlich beugt er sich noch auf einen
Wink hin tief zu dem Mann hinab, um ihm Gelegenheit zur letzten Frage
zu geben. Nur eine schwache Ungeduld – der Türhüter weiß ja,
dass alles zu Ende ist – spricht sich in den Worten aus: 'Du bist
unersättlich.' Manche gehn sogar in dieser Art der Erklärung noch
weiter und meinen, die Worte, 'Du bist unersättlich', drücken eine
Art freundschaftlicher Bewunderung aus, die allerdings von
Herablassung nicht frei ist. Jedenfalls schließt sich so die Gestalt
des Türhüters anders ab, als du es glaubst." "Du kennst
die Geschichte genauer als ich und längere Zeit", sagte K. Sie
schwiegen ein Weilchen. Dann sagte K.: "Du glaubst also, der
Mann wurde nicht getäuscht?" "Missverstehe mich nicht",
sagte der Geistliche, "ich zeige dir nur die Meinungen, die
darüber bestehn. Du musst nicht zu viel auf Meinungen achten. Die
Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein
Ausdruck der Verzweiflung darüber. In diesem Falle gibt es sogar
eine Meinung, nach welcher gerade der Türhüter der Getäuschte
ist." "Das ist eine weitgehende Meinung", sagte K.
"Wie wird sie begründet?" "Die Begründung",
antwortete der Geistliche, "geht von der Einfalt des Türhüters
aus. Man sagt, dass er das Innere des Gesetzes nicht kennt, sondern
nur den Weg, den er vor dem Eingang immer wieder abgehn muss. Die
Vorstellungen, die er von dem Innern hat, werden für kindlich
gehalten und man nimmt an, dass er das, wovor er dem Manne Furcht
machen will, selbst fürchtet. Ja er fürchtet es mehr als der Mann,
denn dieser will ja nichts anderes als eintreten, selbst als er von
den schrecklichen Türhütern des Innern gehört hat, der Türhüter
dagegen will nicht eintreten, wenigstens erfährt man nichts darüber.
Andere sagen zwar, dass er bereits im Innern gewesen sein muss, denn
er ist doch einmal in den Dienst des Gesetzes aufgenommen worden und
das könne nur im Innern geschehen sein. Darauf ist zu antworten,
dass er wohl auch durch einen Ruf aus dem Innern zum Türhüter
bestellt worden sein könne und dass er zumindest tief im Innern
nicht gewesen sein dürfte, da er doch schon den Anblick des dritten
Türhüters nicht mehr ertragen kann. Außerdem aber wird auch nicht
berichtet, dass er während der vielen Jahre außer der Bemerkung
über die Türhüter irgendetwas von dem Innern erzählt hätte. Es
könnte ihm verboten sein, aber auch vom Verbot hat er nichts
erzählt. Aus alledem schließt man, dass er über das Aussehn und
die Bedeutung des Innern nichts weiß und sich darüber in Täuschung
befindet. Aber auch über den Mann vom Lande soll er sich in
Täuschung befinden, denn er ist diesem Mann untergeordnet und weiß
es nicht. Dass er den Mann als einen Untergeordneten behandelt,
erkennt man an vielem, das dir noch erinnerlich sein dürfte. Dass er
ihm aber tatsächlich untergeordnet ist, soll nach dieser Meinung
ebenso deutlich hervor gehn. Vor allem ist der Freie dem Gebundenen
übergeordnet. Nun ist der Mann tatsächlich frei, er kann hin gehn,
wohin er will, nur der Eingang in das Gesetz ist ihm verboten und
überdies nur von einem Einzelnen, vom Türhüter. Wenn er sich auf
den Schemel seitwärts vom Tor niedersetzt und dort sein Leben lang
bleibt, so geschieht dies freiwillig, die Geschichte erzählt von
keinem Zwang. Der Türhüter dagegen ist durch sein Amt an seinen
Posten gebunden, er darf sich nicht auswärts entfernen, allem
Anschein nach aber auch nicht in das Innere gehn, selbst wenn er es
wollte. Außerdem ist er zwar im Dienst des Gesetzes, dient aber nur
für diesen Eingang, also auch nur für diesen Mann, für den dieser
Eingang allein bestimmt ist. Auch aus diesem Grunde ist er ihm
untergeordnet. Es ist anzunehmen, dass er durch viele Jahre, durch
ein ganzes Mannesalter gewissermaßen, nur leeren Dienst geleistet
hat, denn es wird gesagt, dass ein Mann kommt, also jemand im
Mannesalter, dass also der Türhüter lange warten musste, ehe sich
sein Zweck erfüllte und zwar solange warten musste, als es dem Mann
beliebte, der doch freiwillig kam. Aber auch das Ende des Dienstes
wird durch das Lebensende des Mannes bestimmt, bis zum Ende also
bleibt er ihm untergeordnet. Und immer wieder wird betont, dass von
alledem der Türhüter nichts zu wissen scheint. Daran wird aber
nichts Auffälliges gesehn, denn nach dieser Meinung befindet sich
der Türhüter noch in einer viel schwerern Täuschung, sie betrifft
seinen Dienst. Zuletzt spricht er nämlich vom Eingang und sagt: 'Ich
gehe jetzt und schließe ihn', aber am Anfang heißt es, dass das Tor
zum Gesetz offen steht wie immer, steht es aber immer offen, immer,
d.h. unabhängig von der Lebensdauer des Mannes, für den es bestimmt
ist, dann wird es auch der Türhüter nicht schließen können.
Darüber gehn die Meinungen auseinander, ob der Türhüter mit der
Ankündigung, dass er das Tor schließen wird, nur eine Antwort geben
oder seine Dienstpflicht betonen oder den Mann noch im letzten
Augenblick in Reue und Trauer setzen will. Darin aber sind viele
einig, dass er das Tor nicht wird schließen können. Sie glauben
sogar, dass er wenigstens am Ende auch in seinem Wissen dem Manne
untergeordnet ist, denn dieser sieht den Glanz der aus dem Eingang
des Gesetzes bricht, während der Türhüter als solcher wohl mit dem
Rücken zum Eingang steht und auch durch keine Äußerung zeigt, dass
er eine Veränderung bemerkt hätte." "Das ist gut
begründet", sagte K., der einzelne Stellen aus der Erklärung
des Geistlichen halblaut für sich wiederholt hatte. "Es ist gut
begründet und ich glaube nun auch, dass der Türhüter getäuscht
ist. Dadurch bin ich aber von meiner frühern Meinung nicht
abgekommen, denn beide decken sich teilweise. Es ist unentscheidend,
ob der Türhüter klar sieht oder getäuscht wird. Ich sagte, der
Mann wird getäuscht. Wenn der Türhüter klar sieht, könnte man
daran zweifeln, wenn der Türhüter aber getäuscht ist, dann muss
sich seine Täuschung notwendig auf den Mann übertragen. Der
Türhüter ist dann zwar kein Betrüger, aber so einfältig, dass er
sofort aus dem Dienst gejagt werden müsste. Du musst doch bedenken,
dass die Täuschung, in der sich der Türhüter befindet, ihm nichts
schadet, dem Mann aber tausendfach." "Hier stößt du auf
eine Gegenmeinung", sagte der Geistliche. "Manche sagen
nämlich, dass die Geschichte niemandem ein Recht gibt, über den
Türhüter zu urteilen. Wie er uns auch erscheinen mag, so ist er
doch ein Diener des Gesetzes, also zum Gesetz gehörig, also
dem menschlichen Urteil entrückt. Man darf dann auch nicht
glauben, dass der Türhüter dem Manne untergeordnet ist. Durch
seinen Dienst auch nur an den Eingang des Gesetzes gebunden zu sein,
ist unvergleichlich mehr als frei in der Welt zu leben. Der Mann
kommt erst zum Gesetz, der Türhüter ist schon dort. Er ist vom
Gesetz zum Dienst bestellt, an seiner Würdigkeit zu zweifeln, hieße
am Gesetze zweifeln." "Mit dieser Meinung stimme ich nicht
überein", sagte K. kopfschüttelnd, "denn wenn man sich
ihr anschließt, muss man alles, was der Türhüter sagt, für wahr
halten. Dass das aber nicht möglich ist, hast du ja selbst
ausführlich begründet." "Nein", sagte der
Geistliche, "man muss nicht alles für wahr halten, man muss es
nur für notwendig halten." "Trübselige Meinung",
sagte K. "Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht."
K.
sagte das abschließend, aber sein Endurteil war es nicht. Er war zu
müde, um alle Folgerungen der Geschichte übersehn zu können, es
waren auch ungewohnte Gedankengänge, in die sie ihn führte,
unwirkliche Dinge, besser geeignet zur Besprechung für die
Gesellschaft der Gerichtsbeamten als für ihn. Die einfache
Geschichte war unförmlich geworden, er wollte sie von sich
abschütteln und der Geistliche, der jetzt ein großes Zartgefühl
bewies, duldete es und nahm K.'s Bemerkung schweigend auf, trotzdem
sie mit seiner eigenen Meinung gewiss nicht übereinstimmte.
Sie
gingen eine Zeit lang schweigend weiter, K. hielt sich eng neben dem
Geistlichen, ohne in der Finsternis zu wissen, wo er sich befand. Die
Lampe in seiner Hand war längst erloschen. Einmal blinkte gerade vor
ihm das silberne Standbild eines Heiligen, nur mit dem Schein des
Silbers, und spielte gleich wieder ins Dunkel über. Um nicht
vollständig auf den Geistlichen angewiesen zu bleiben, fragte ihn
K.: "Sind wir jetzt nicht in der Nähe des Haupteinganges?"
"Nein", sagte der Geistliche, "wir sind weit von ihm
entfernt. Willst du schon fort gehn?" Trotzdem K. gerade jetzt
nicht daran gedacht hatte, sagte er sofort: "Gewiss, ich muss
fortgehn. Ich bin Prokurist einer Bank, man wartet auf mich, ich bin
nur hergekommen, um einem ausländischen Geschäftsfreund den Dom zu
zeigen." "Nun", sagte der Geistliche und reichte K.
die Hand, "dann geh." "Ich kann mich aber im Dunkel
allein nicht zurechtfinden", sagte K. "Geh links zur Wand",
sagte der Geistliche, "dann weiter die Wand entlang, ohne sie zu
verlassen und du wirst einen Ausgang finden." Der Geistliche
hatte sich erst paar Schritte entfernt, aber K. rief schon sehr laut:
"Bitte, warte noch." "Ich warte", sagte der
Geistliche. "Willst du nicht noch etwas von mir?" fragte K.
"Nein", sagte der Geistliche. "Du warst früher so
freundlich zu mir", sagte K., "und hast mir alles erklärt,
jetzt aber entlässt du mich, als läge dir nichts an mir. " "Du
musst doch fortgehn?" sagte der Geistliche. "Nun ja",
sagte K., "sieh das doch ein." "Sieh du zuerst ein,
wer ich bin", sagte der Geistliche. "Du bist der
Gefängniskaplan", sagte K. und ging näher zum Geistlichen hin,
seine sofortige Rückkehr in die Bank war nicht so notwendig, wie er
sie dargestellt hatte, er konnte recht gut noch hier bleiben. "Ich
gehöre also zum Gericht", sagte der Geistliche. "Warum
sollte ich also etwas von dir wollen. Das Gericht will nichts von
dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst und es entlässt dich, wenn du
gehst."
Ein
Kommen und Gehen also.
Hervorhebungen
und der letzte Satz stammen von mir.